Diversity-Talk mit Prof.in Dr. Marie von Lilienfeld-Toal

Der DIVERSITY IN HEALTH CONGRESS ist dem Anliegen gewidmet, ein umfassendes Verständnis für die Bedeutung von Diversität im Gesundheitswesen zu fördern und dem Thema eine Plattform zu bieten. Im Vordergrund steht dabei die Frage, wie ein gleichberechtigter Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglicht werden kann, der die verschiedenen Bedürfnisse berücksichtigt. Wir wollen im Vorfeld der Veranstaltung mit Speaker:innen des Kongresses ins Gespräch kommen, um persönliche Einblicke in die Bedeutung von Diversität im Gesundheitswesen zu gewinn. In Vorbereitung auf den  3. DIVERSITY IN HEALTH CONGRESS durften wir für unseren nächsten #Diversity-Talk mit Frau Prof.in Dr. Marie von Lilienfeld- Toal sprechen.

Prof.in Dr. Marie von Lilienfeld-Toal ist Fachärztin für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie. Seit Juli 2023 verstärkt sie die Campusmedizin der Ruhr-Universität Bochum und baut dort das erste deutsche Institut für Diversitätsmedizin auf. In dem Interview sprachen wir mit ihr über die Bedeutung von Diversität im Gesundheitswesen, die Herausforderungen bei der Integration diverser Faktoren in die medizinische Praxis und die Klärung von Begrifflichkeiten.

 

INNO3: Diverstität im Gesundheitswesen bedeutet für mich…

Dr. von Lilienfeld-Toal:… angemessene Repräsentanz aller Gruppen.

INNO3: Inwiefern spielt Diversität bei Ihrer Arbeit eine Rolle?

Dr. von Lilienfeld-Toal: Ich bin von Haus aus Hämatologin und Onkologin und betreue Menschen mit Krebs. Und die sind divers. Insofern ist das für mich täglich Brot, da Menschen vielfältig sind. Das heißt, die Diversität muss bei den Patient:innen berücksichtigt werden, wenn ich eine bestmögliche Therapie gewährleisten möchte. Die gleiche Therapie für alle ist nicht unbedingt die bestmögliche Therapie für jede Person. Die Notwendigkeit, diese Vielfalt zu berücksichtigen, um eine optimale Therapie für jeden zu gewährleisten, motivierte den Aufbau des Instituts für Diversitätsmedizin, insbesondere vor dem Hintergrund der Pandemie.

„Die gleiche Therapie für alle ist nicht unbedingt die bestmögliche Therapie für jede Person.“

Ich begann, mich mehr mit den Auswirkungen individueller Faktoren hinsichtlich der Epidemiologie, Biologie und Behandelbarkeit von Erkrankungen zu beschäftigen. Genau das nehmen wir beim Institut für Diversitätsmedizin in den Fokus. Hier hinkt Deutschland hinterher – wir sind fortgeschritten in der geschlechtersensiblen Medizin, aber in dem Moment, in dem noch andere Faktoren dazukommen, wird es relativ dünn. Und es wird erst recht sehr dünn, wenn man die Faktoren gemeinsam, also die Schnittstellen und Interaktionen betrachtet. Da ist noch viel zu tun. Das ist besonders wichtig, da unsere Gesellschaft nicht weniger vielfältig wird, sondern eher vielfältiger.

INNO3: Welche konkreten Schritte müssen noch hinsichtlich eines diversen Gesundheitssystems gegangen werden?

Dr. von Lilienfeld-Toal: Für mich ist Diversität im Gesundheitswesen ein schwammiger Begriff. Als allererstes ist zu klären, was damit eigentlich gemeint ist. Meinen wir das Verständnis und die Berücksichtigung der Diversität der Menschen, die wir behandeln, oder meinen wir die Personen, die im Gesundheitswesen arbeiten? Das sind zwei verschiedene Perspektiven, die sicherlich miteinander verknüpft sind, aber die auch auseinandergehalten und im Einzelnen betrachtet werden sollten.

Und für Ersteres, was auch der Schwerpunkt unseres Institutes ist, ist es als allererstes wichtig, die Begriffe präziser zu klären. Wir betrachten die Diversität als einen Aspekt, der durch verschiedene Systematiken, insbesondere im sozialen Bereich, kategorisiert und beschrieben wird. Es bleibt jedoch unklar, welche Rolle diese Systeme in der Medizin spielen. Stellt beispielsweise der Migrationshintergrund eines Individuums einen medizinisch relevanten Faktor dar? Wenn ja, welche Aspekte sind dabei von Bedeutung? Es ist außerdem sinnvoll zu hinterfragen, ob möglicherweise sozioökonomische Faktoren eine entscheidendere Rolle spielen, unabhängig von einem Migrationshintergrund. Zum Beispiel könnte die Tatsache, ob jemand auf der Straße lebt, medizinisch relevanter sein als der Migrationshintergrund.

„Wir betrachten die Diversität als einen Aspekt, der durch verschiedene Systematiken, insbesondere im sozialen Bereich, kategorisiert und beschrieben wird. Es bleibt jedoch unklar, welche Rolle diese Systeme in der Medizin spielen.“

Ein besonders aktuelles Beispiel für diese Überlegungen ist die Frage, wie wir mit den Begriffen „Race“ und „Ethnicity“ umgehen. Während dies in den USA stark betont und berücksichtigt wird, gestaltet sich die Übertragung dieses Konzepts und eine Übersetzung des Begriffs in Deutschland schwierig[1]. Es ist wichtig zu betonen, dass es keine genetische Konstellation gibt, die Menschengruppen in „Rassen“ definiert. Somit können wir nicht einfach ein biologisch definiertes Konzept von „Rasse“ übernehmen, sondern dürfen nur die Aspekte berücksichtigen, die für uns tatsächlich von Belang sind. Bei „race“ ist auch vor allem das soziale Konstrukt und nicht so sehr eine angenommene Biologie gemeint. Rassismuserfahrungen hingegen sind in Deutschland durchaus relevant und spielen eine eigenständige Rolle. Jedoch ist fraglich, inwiefern kultureller Hintergrund oder biologische Gegebenheiten rassifizierter Gruppen mit medizinischer Diagnostik oder Therapie verbunden sind. In der Medizin gibt es sogar aus den USA stammende Race-Korrekturfaktoren[2], was in Deutschland schwer vorstellbar ist, da es sich um eine soziologische Variable handelt und nicht um eine biologische Grundlage.

Zusammenfassend sollten wir uns darauf konzentrieren, Begriffe zu klären und nur über Themen zu sprechen, die medizinisch relevant sind. Wenn etwas keine Rolle in der medizinischen Diagnostik spielt, sollte es uns auch wirklich egal sein.

INNO3: Auf welche weiteren Herausforderungen stoßen Sie in Ihrer Arbeit noch?

Dr. von Lilienfeld-Toal: Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass wir uns von den ausgetretenen Pfaden der Medizin lösen müssen. Die Enge in unserem Denken hat ihre wissenschaftliche Begründung, vor allem durch unser stark naturwissenschaftliches Verständnis. Das Lernen in diesem Kontext ist experimentell ausgerichtet, wobei wir versuchen, nur eine Variable zu verändern, um den Einfluss zu verstehen. Dieses Vorgehen setzt jedoch voraus, dass alles andere konstant bleibt, was am besten bei genetisch identischen Mäusen im Labor funktioniert. Bei Menschen gestaltet sich dies aufgrund ihrer Vielfältigkeit schwieriger.

„Das Streben nach Homogenität in der Forschung ist zwar wissenschaftlich nachvollziehbar, führt jedoch potenziell zu fehlender Evidenz für unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen und bringt zusätzliche Unsicherheiten und Schwierigkeiten mit sich.“

Zudem erfordert es eine gewisse Bereitschaft, sich auf Unbequemlichkeiten und zeitaufwendige Prozesse einzulassen, was oft als hinderlich wahrgenommen wird. Vielleicht besteht hier die irrige Annahme, dass wir nicht die notwendige Zeit und das Geld dafür haben. Meiner Meinung nach ist dies ein Missverständnis, und die eigentliche Herausforderung liegt darin, anzuerkennen, dass nicht alles so geradlinig funktioniert wie bisher. Dieser Wandel betrifft nicht nur die wissenschaftliche Forschung, sondern auch die Zusammenarbeit im Krankenhausumfeld. Es erfordert die gleiche Offenheit und Flexibilität in beiden Kontexten.

INNO3: Ein Missverständnis über Diversität im Gesundheitswesen, das ich aufklären möchte, ist die Annahme…

Dr. von Lilienfeld-Toal: …das es nur schmückendes Beiwerk ist. Im Gegenteil, es ist eine Conditio sine qua non, so wie ein Orchester auch mehrere Instrumentengruppen braucht.

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[1] Im Englischen wird der Begriff „race“ verwendet, um eine soziokulturelle Unterteilung und Unterschiede auszudrücken, die zu Ungleichheit und Diskriminierung führt (vgl. Hasters 2020: 31, Quent 2020). Der Begriff der Rasse ist für Menschen biologisch unsinnig und zusätzlich im Deutschen historisch belastet, da er gerade während der Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus benutzt wurde, um Menschen zu unterscheiden, abzustufen und eine scheinbar biologische Trennung auszudrücken (vgl. Quent 2020).

[2] „Race“-Korrekturfaktoren werden in medizinischen Algorithmen und Diagnoseverfahren benutzt. “Race“ wird insbesondere in den USA in der medizinischen Diagnostik als Variable für Risikoberechnungen herangezogen (https://www.aerzteblatt.de/archiv/235189/Medizinische-Algorithmen-und-Risikoscores-Die-Rolle-von-race-ueberdenken ).

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 Quellen:

Hasters, Alice (2019): Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten. München: hanserblau Verlag.

Quent, Matthias (2020): Warum steht der Begriff „Rasse“ im Grundgesetz?, https://www.bpb.de/themen/politisches-system/abdelkratie/312945/warum-steht-der-begriff-rasse-im-grundgesetz/, [08.03.2022].

Gießemann, Kathrin und Martin, Mirjam (2023): Medizinische Algorithmen und Risikoscores: Die Rolle von „race“ überdenken, https://www.aerzteblatt.de/archiv/235189/Medizinische-Algorithmen-und-Risikoscores-Die-Rolle-von-race-ueberdenken, [31.01.2024]