Diversity-Talk mit Dr. Nora Gottlieb

Der DIVERSITY IN HEALTH CONGRESS setzt sich dafür ein, ein ganzheitliches Verständnis für die Bedeutung von Diversität im Gesundheitswesen zu fördern und diesem Thema eine Plattform zu bieten. Wir möchten den Fokus darauf legen, wie ein gleichberechtigter Zugang zur Gesundheitsversorgung gewährleistet werden kann, der die vielfältigen Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt. Im Vorfeld des 3. DIVERSITY IN HEALTH CONGRESS hatten wir die Gelegenheit, im Rahmen der #Diversity-Talks ein kurzes Interview mit Dr. Nora Gottlieb zu führen.

Dr. Nora Gottlieb forscht an der Universität Bielefeld im Bereich Public Health. Ihre Forschungsschwerpunkte sind gesundheitliche Ungleichheiten, der Einfluss struktureller Faktoren – wie z.B. gesetzliche Rahmenbedingungen oder Beschäftigungsverhältnisse – auf die Gesundheit in Migrationskontexten, und die Rolle von Evidenz in politischen Entscheidungsprozessen.

 

INNO3: Was verstehst du unter Diversität im Gesundheitswesen?

Dr. Nora Gottlieb: Diversität im Gesundheitswesen bedeutet für mich zum einen, dass das Gesundheitssystem die Vielfalt der Gesellschaft abbildet, und zum anderen den unterschiedlichen Bedarfen und Bedürfnissen gerecht wird.

INNO3: Wie spielt das bei deiner Arbeit eine Rolle und welche Rolle spielen evidenzbasierte Ansätze dabei?

Dr. Nora Gottlieb: Meine Antwort darauf ist vielleicht in Teilen ein bisschen provokant. Zum einen dreht sich meine Forschung um gesundheitliche Ungleichheit im Zusammenhang mit Migration, speziell Fluchtmigration und prekäre Arbeitsmigration. Insofern spielt Diversität in Gesundheitspolitik und Gesundheitswesen eine große Rolle in meiner Arbeit. Andererseits glaube ich, dass Evidenz keine große Rolle spielt, wenn es um die Umsetzung eines diversitätsgerechteren Gesundheitswesens geht.

„Man wüsste grundsätzlich, wie man die Gesundheitsversorgung diversitätsgerechter gestalten könnte und man wüsste auch, wie das umzusetzen wäre. Das ist dann keine Frage der Evidenz, das ist auch keine ‚Rocket Science‘, sondern eine Frage der politischen Entscheidung.“

Tatsächlich fragen wir uns als Forschende immer wieder selbstkritisch, inwiefern die von uns geschaffene Evidenz etwas beiträgt und wie wir die Diskrepanzen zwischen Wissen und Praxis verringern können; denn viele Probleme sind bereits erforscht und Lösungsansätze bekannt. Es mangelt dann eher am politischen Willen zur Umsetzung, zum Beispiel für Sprachmittlungen in der Gesundheitsversorgung – das ist jetzt ein konkretes Beispiel aus meinem Themenbereich von Migration und Gesundheit. Also, man wüsste grundsätzlich, wie man die Gesundheitsversorgung diversitätsgerechter gestalten könnte und man wüsste auch, wie das umzusetzen wäre. Das ist dann keine Frage der Evidenz, das ist auch keine „Rocket Science“, sondern eine Frage der politischen Entscheidung.

INNO3: Welche gesundheitspolitischen Maßnahmen sind deiner Ansicht nach erforderlich, um ein gerechteres Gesundheitssystem zu etablieren?

Dr. Nora Gottlieb: Die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes wäre in meinem thematischen Bereich ein wichtiger Schritt, da es im Widerspruch steht, nicht nur zu Diversität, Gleichstellung und Inklusion, sondern auch zu Normen, die im Grundgesetz und in EU-Richtlinien verankert sind. Zudem ist es ineffektiv. In unserer Forschung konnten wir belegen, dass das Gesetz die Zwecke, die es angeblich verfolgt, nicht erreicht, beispielsweise Kosteneinsparungen. In der Realität entstehen mehr Kosten und Bürden für das Gesundheitssystem. Unserer Forschung zufolge wäre ein inklusiver Ansatz daher rechtlich und ethisch angemessener und auch effektiver – und die Anwendung der „Massenzustrom-Richtlinie“ für ukrainische Geflüchtete hat auch gezeigt, dass er möglich ist. Hier ist also ein Beispiel, wo wir Evidenz zu diversitätsfreundlicher Gesundheitspolitik generieren. Es wäre toll, wenn sie sich auf politische Entscheidungen auswirken würde, aber ich bin da leider skeptisch.

„Statt Diversität und Inklusion als Bürde oder Zusatzleistung für „Andere“ zu betrachten, sollten wir sie als eine Stärke und Bereicherung für unsere Gesellschaft begreifen.“

Dahingehend wäre ein ganz wichtiger weiterer Schritt eine Veränderung unsere gesellschaftlichen Narrative rund um Diversität und Inklusion. Statt Diversität und Inklusion als Bürde oder Zusatzleistung für „Andere“ zu betrachten, sollten wir sie als eine Stärke und Bereicherung für unsere Gesellschaft begreifen. Diversität verbindet uns; und ein Gesundheitswesen, das diversitätsgerechter ist, kann uns allen zugutekommen. Ein Umdenken in dieser Hinsicht könnte dazu beitragen, mehr Akzeptanz und Unterstützung für diversitätsfreundliche Maßnahmen zu schaffen.

Darüber hinaus denke ich, dass es wichtig wäre, die strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen so zu gestalten, dass Gesundheitsdienstleistende die Bedürfnisse und Anforderungen einer vielfältigen Gesellschaft besser erfüllen können, ohne zusätzliche Belastungen auf sie zu laden. Eine grundlegende gesundheitspolitische Maßnahme wäre daher, das Gesundheitssystem wieder stärker von wirtschaftlichen Zielvorgaben zu lösen und stattdessen das Wohl der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Die Förderung von Gesundheit sollte das oberste Ziel sein, sowohl für die Nutzer:innen des Gesundheitssystems als auch für die Anbieter:innen. Wirtschaftliche Überlegungen sollten da Mittel zum Zweck sein, nicht das Ziel.

Und letztendlich wäre es wichtig, mehr Diversität in politischen Entscheidungsprozessen zu fördern, um eine diversitätsfreundlichere Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen wie dem Gesundheitssystem zu ermöglichen. Mehr Partizipation und Vielfalt in den Entscheidungsgremien könnten dazu beitragen, eine breitere Palette von Perspektiven zu berücksichtigen und so zu einer inklusiveren Gesundheitsversorgung beizutragen.

INNO3: Welches ist dein wichtigster Grundsatz für eine inklusive Gesundheitsversorgung?

Dr. Nora Gottlieb: Es geht letztendlich immer um Menschen. Wenn wir Menschen immer als solche wahrnehmen, in all ihren Unterschieden, aber halt darin gleich, dass sie Menschen sind, haben wir schon viel gewonnen.

INNO3: Ein Missverständnis über Diversität im Gesundheitswesen, welches ich aufklären möchte..

Dr. Nora Gottlieb: Diversität ist keine Last und keine Bürde, sondern Realität. Es ist etwas, das uns alle verbindet und deshalb ist ein diversitätsgerechtes Gesundheitswesen etwas, von dem wir alle profitieren können.

„Es ist mir wichtig zu betonen, dass diese Themen nicht nur theoretische Überlegungen sind, sondern akute Anliegen darstellen, für die wir uns jetzt einsetzen müssen. „

Außerdem würde ich gerne noch einmal auf das aktuelle politische Geschehen eingehen. In meiner akademischen Bubble fordern wir seit langem mehr Gleichstellung und Inklusion. Aber in der realen Welt entwickeln sich die Dinge in eine andere Richtung. Es ist mir wichtig zu betonen, dass diese Themen nicht nur theoretische Überlegungen sind, sondern akute Anliegen darstellen, für die wir uns jetzt einsetzen müssen. Hier in Deutschland geht es den meisten von uns noch relativ gut und wir fühlen uns sicher, aber selbst hier haben manche Menschen schon ein akutes Bedrohungsgefühl. Und wir können ganz aktuell an verschiedenen Beispielen sehen, wie schnell es dann plötzlich mit Diversität und mit Demokratie allgemein vorbei sein kann – und mit welchen katastrophalen Folgen. Ich würde mir wünschen, dass das der breiten Masse bewusst wird und dass noch mehr Leute aufwachen und sich für die Art des gesellschaftlichen Miteinanders engagieren, das sie haben wollen.