
Nadja Nardini ist Beraterin für Organisationsentwicklung und hat unter anderem das innovative Pilotprojekt „Meine Station“ initiiert und begleitet.
In unserem Interview gibt Nadja spannende Einblicke in das Projekt am Klinikum Aschaffenburg. Als einzigartiges Modell im Gesundheitswesen setzt „Meine Station“ auf Selbstorganisation und autonome Arbeitsweisen, bei denen Mitarbeitende eigenverantwortlich Entscheidungen treffen und aktiv an der Gestaltung ihrer Arbeitsprozesse beteiligt sind. Sie erläutert, wie dieses Projekt die Teamdynamik, Arbeitsabläufe und die Beziehung zwischen Pflegekräften und Ärzt:innen verändert hat, und teilt wertvolle Erfahrungen aus der Begleitung weiterer Transformationsprozesse.
INNO3: Wie hat das Pilotprojekt „Meine Station“ die Entwicklung und Anwendung von Methoden zur Selbstorganisation vorangetrieben, und welche Erfahrungen haben Sie seitdem in der Begleitung weiterer Transformationsvorhaben gemacht?
Nadja Nardini: „Meine Station“ am Klinikum Aschaffenburg war das initiale und in dem Vorhaben, eine komplett autonom agierende, selbstorganisierte Station aufzuhaben, ein zu der Zeit einzigartiges Pilotprojekt und damit sehr relevantes Referenzprojekt. In der Zwischenzeit begleitete und begleite ich weitere Transformationen und Transformationsvorhaben. Dabei geht es um weitere selbstorganisierte Teams, aber auch darum, mithilfe der Methoden der Selbstorganisation die individuell passende organisatorische Zusammenarbeit zu finden – im Raum zwischen zentralen und dezentralen Strukturen. Die Methoden bieten den Mitarbeitenden die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen und ihre Zusammenarbeit sowie Arbeitsbedingungen mitzugestalten – ausgerichtet an den Bedürfnissen der Organisation bzw. der Teams.
„‚Meine Station‘ am Klinikum Aschaffenburg war das initiale und in dem Vorhaben, eine komplett autonom agierende, selbstorganisierte Station aufzuhaben, ein zu der Zeit einzigartiges Pilotprojekt und damit sehr relevantes Referenzprojekt.“
INNO3: Wie unterscheidet sich der Arbeitsalltag auf „Meine Station“ im Vergleich zu herkömmlichen Stationen, insbesondere in Bezug auf Arbeitsabläufe, Teamdynamik und die Zusammenarbeit zwischen Ärzt:innen und Pflegekräften?
Nadja Nardini: 2022 war es die Vision, eine Station aufzubauen, die eine naturwissenschaftlich fundierte Medizin ermöglicht und Raum gibt für eine menschenfokussierte und bedürfnisorientierte Entwicklung. Strukturen und Prozesse werden von den Mitarbeitenden von „Meine Station“ selbst entwickelt, bei Bedarf (immer wieder) angepasst und nicht von oben aus der Hierarchie herab oder von extern diktiert. Dabei werden die Bedürfnisse der Mitarbeitenden sowie der Patient:innen bestmöglich integriert.
Der Arbeitsalltag ist durch deutlich höhere Eigenverantwortung geprägt. Das Team arbeitet in Rollen und in Kreisen. Im Fokus stehen die Behandlung und Pflege von Patient:innen. Hinzu sind Rollen gekommen, die Verantwortlichkeiten rund um die Organisation, Administration und Weiterentwicklung der Station und ihrer Mitarbeitenden tragen. Die Rollen werden nach Stärken und Kompetenzen verteilt. Das öffnet neue Räume für persönliche Entwicklung. Die verschiedenen Abschnitte des Behandlungs- und Pflegeprozesses werden jeweils gemeinsam von den beteiligten Professionen gestaltet.
Im Behandlungsablauf hat sich für die Patient:innen einiges verändert. Vorab findet eine Patient:innenschulung statt, um sie individuell auf ihren Stationsaufenthalt vorzubereiten. Während des Stationsaufenthalts werden die Patient:innen schnellstmöglich mobilisiert und, im Rahmen ihrer gesundheitlichen Möglichkeiten, in ihren Behandlungsprozess einbezogen. Damit wird nicht nur der Stationsaufenthalt möglichst effizient gestaltet, sondern die Patient:innen auch auf die Situation Zuhause vorbereitet. Beispielsweise holen sich die Patient:innen ihre Medikamente und Mahlzeiten aktiv im Stationsstützpunkt ab. Gegessen wird nicht im Bett, sondern im stationseigenen Bistro, wo die Patient:innen auch immer einen Ort zum Austausch (unter Betroffenen) finden. Auch die Visite findet nicht mehr klassisch im Bett statt, sondern in einem Visiten-Sprechstundenzimmer.
„Im Behandlungsablauf hat sich für die Patient:innen einiges verändert. […] Beispielsweise holen sie sich ihre Medikamente und Mahlzeiten aktiv im Stationsstützpunkt ab. Gegessen wird nicht im Bett, sondern im stationseigenen Bistro, wo sie auch immer einen Ort zum Austausch (unter Betroffenen) finden.“
INNO3: Welche Herausforderungen haben Sie bei der Umstellung auf selbstorganisierte Arbeitsweisen erlebt und wie werden in Ihrem Team ohne klassische Hierarchien Entscheidungen getroffen?
Nadja Nardini: Generell bringt die Abkehr vom traditionell hierarchischen System hin zu mehr oder vollständiger Autonomie der Teams die Herausforderung, dass die Mitarbeitenden (Eigen-)Verantwortung übernehmen und das zum Teil erst einmal (wieder) lernen müssen. Dafür braucht es zum einen Klarheit in den definierten Strukturen, Prozessen und Regeln für die Zusammenarbeit. Zum anderen braucht es eine gute Kommunikation – für die Transparenz von relevanten Informationen, aber für einen verständnisvollen Umgang miteinander. Für Letzteres braucht es wiederum nicht nur Empathie, sondern auch Kompetenzen in Feedback und Konfliktlösung. All diese Veränderungen können, insbesondere zu Anfang, überfordern. Deshalb muss sich die Geschwindigkeit der Transformation nach den Bedürfnissen des Teams richten. Sie darf nicht zu schnell sein, damit sie nicht überfordert, aber auch nicht zu langsam sein, damit es die Motivation nicht ausbremst.
Zusätzlich gibt es jeweils Vorteile, Nachteile und Herausforderungen in der Transformation eines bestehenden Teams oder dem Neuaufbau eines Teams – wie „Meine Station“. Hier kam ein Großteil der Stationsmitglieder fachfremd und/oder von extern neu ins Klinikum, ins Team und auf eine bis dahin leerstehende Station. Das bedeutete gleichzeitig neue Methoden zu lernen, eine leere Station aufzubauen, die Patient:innenversorgung in der neuen Art der Zusammenarbeit zu gestalten, klinikspezifische Prozesse sowie die Fachlichkeit kennenzulernen sowie sich als Team zu finden. Darüber hinaus musste für das Pilotprojekt eine Betriebsvereinbarung erstellt werden. Die Mitglieder von Meine Station haben sich durch ihre Bewerbung zwar bewusst für das Pilotprojekt entschieden. In der Selbstorganisation zu arbeiten, fordert jedoch bewusst Energie, die Verantwortung zu übernehmen, alte Muster zu verlernen und neue Muster zu festigen. Das braucht Zeit und Geduld. Und viel Selbstreflexion und persönliche Entwicklung.
Für den Strukturaufbau sowie die weiteren iterativen Veränderungen werden über Strukturen, Prozesse und Regeln im Team Entscheidungen getroffen. Veränderungsvorschläge werden in den entsprechenden Kreisen eingebracht und im Konsent (nicht Konsens) beschlossen – sofern kein Sicherheitsrisiko durch den Vorschlag entstehen. So können Veränderungen nach dem Motto „Good enough for now and safe enough to try” schnell und schrittweise umgesetzt werden. Die festgelegten Rollen besitzen dann außerdem im Rahmen ihrer Verantwortlichkeiten die Autonomie, um Entscheidungen zu treffen.
INNO3: Haben die Patient:innen einen spürbaren Unterschied in der Pflege wahrgenommen? Welche Rückmeldungen haben Sie dazu erhalten?
Nadja Nardini: Von den Patient:innen gibt es sehr positives Feedback. Am Ende eines jeden Stationsaufenthalts nehmen sie an einer Befragung teil. Diese zeigt überdurchschnittlich hohe Zufriedenheit und Wohlbefinden vor, während und nach dem Stationsaufenthalt. Besonders positiv wird bewertet, dass sie aktiv in ihren Behandlungsprozess einbezogen werden und dass ausreichend Zeit mit dem ärztlichen und pflegerischen Team besteht. Und welche Station kann schon davon berichten, dass Patient:innen anrufen und nachfragen, was sie tun müssten, um wieder auf „Meine Station“ einchecken zu dürfen.
„In der evolutionären Entwicklung von Organisationen, ganz unabhängig der Branche, stehen wir gerade an der Stufe zu kollaborativen und ganzheitlichen Ansätzen. […] Der Ansatz der Selbstorganisation hat großes Potenzial für die Zukunft der Gesundheitsversorgung.“
INNO3: Wie bewerten Sie das Potenzial des Modells für die Zukunft? Wie könnte es auf andere Akteure und Sektoren der Gesundheitsversorgung übertragen werden?
Nadja Nardini: In der evolutionären Entwicklung von Organisationen, ganz unabhängig der Branche, stehen wir gerade an der Stufe zu kollaborativen und ganzheitlichen Ansätzen. Es braucht Agilität, um auf die Dynamiken der Umwelt zu reagieren. Das Gesundheitswesen steht vor der Notwendigkeit einer organisatorischen Veränderung – strukturell wie auch kulturell. Der Ansatz der Selbstorganisation hat großes Potenzial für die Zukunft der Gesundheitsversorgung, weil dieser die Menschen in die Fähigkeit bringen kann, Eigenverantwortung zu lernen, Verantwortung zu übernehmen und Zusammenarbeit bedürfnisorientiert zu gestalten. Das kann nicht nur die Produktivität und Qualität, sondern auch die Zufriedenheit der Mitarbeitenden und Patient:innen verbessern. Wichtig dabei ist, dass es dafür keine Einheitslösung gibt, sondern die Transformation an die spezifischen Bedürfnisse der Organisation bzw. der jeweiligen Teams angepasst wird.
Nadja Nardini wird am 13. November bei LVL UP Health Vol. 2 in Leipzig vor Ort sein und in der Session „Impulse & Fishbowl-Diskussion: Change in der Praxis – vom Risiko zum Potenzial“ spannende neue Anregungen sowie tiefere Einblicke in ihr Pilotprojekt „Meine Station“ geben.